Der Fall G.

Der Fall jenes Politikers, dem wegen mehrerer Plagiate in seiner Dissertation sein Doktorgrad aberkannt wurde, wird in Deutschland heiß diskutiert. Außer G. selbst sind auch manche andere Politikerinnen und Politiker sowie ein nicht unerheblicher Teil der Öffentlichkeit der Meinung, er könne sein Amt als Bundesminister weiter ausüben.

Ein Vergleich mit einem früheren Fall drängt sich auf: Vor fast 20 Jahren trat ein Landesminister in Thüringen zurück. Er war beim Ladendiebstahl zweier geringwertiger Gegenstände ertappt worden. Denkbar ist, dass ihm einer dieser Gegenstände (ein Druckerzeugnis mit besonders vielen Abbildungen unbedeckter Haut) zu peinlich war, um ihn an der Kasse ehrlich vorzuzeigen. Die beiden Gegenstände, die der Amtsträger sich unrechtmäßig aneignen wollte, gehörten zu seinem Privatleben, und auch wenn nun einmal jeder Ladendiebstahl eine Straftat ist, war es doch ein Bagatelldelikt. Dennoch war unstrittig, dass die moralische Integrität des Amtsträgers durch diese in einem Augenblick begangene Verfehlung so beschädigt war, dass er im Amt untragbar war. Die wohlmeinendsten Kommentare lauteten etwa: Schade, er hat doch als Minister gute Arbeit gemacht; wie konnte er nur so etwas Dummes tun.

Ein Plagiat ist beim wissenschaftlichen Arbeiten eine der schlimmsten Verfehlungen. Wer das nicht begreift, sollte von wissenschaftlicher Arbeit einfach die Finger lassen. Ungeachtet der Frage strafrechtlicher Relevanz (die zu laxe Promotionsordnung der verleihenden Fakultät scheint G. hier zugute zu kommen) ist diese umfassende Aneignung fremder gedanklicher Leistung doch viel schwerwiegender als der oben genannte Ladendiebstahl. Dies umso mehr, zumal die Täuschung bei der Dissertation planvolles bewusstes Handeln über einen längeren Zeitraum einschließt und nicht mit der spontanen Unbeherrschtheit eines Augenblicks zu vergleichen ist.

Letzterer Aspekt unterscheidet G.s Fehlverhalten auch von der Alkoholfahrt, die vor kaum einem Jahr zum Rücktritt einer populären Bischöfin führte. Auch dies war sicher die Unüberlegtheit eines Moments, trotzdem sah sich die Betroffene selbst, gegen viele nachsichtigere Stimmen in der Öffentlichkeit, außerstande, ihr Amt weiterzuführen. Immerhin muss man konstatieren, dass betrunken Auto zu fahren die einzige der hier erörterten Verhaltensweisen ist, die eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben einschließt.

Deswegen ist auch im Fall G. das Wohlwollendste, was sich sagen lässt: Schade, wie konnte er nur so etwas Dummes tun, aber nun muss er zurücktreten.

Die Frage politischer Sympathien darf sich hier nicht stellen. Mit den politischen Grundsätzen wie auch Einzelentscheidungen G.s kann man übereinstimmen oder ihnen widersprechen, den Stil seines öffentlichen Auftretens mag man gutheißen oder nicht – genau wie bei jedem anderen Politiker und jeder Politikerin. Nur darf das doch in einer Demokratie niemals die Frage der grundsätzlichen Befähigung, ein Ministeramt auszuüben, berühren. Mit anderen Worten, ein absolut integrer Politiker, dessen politische Linie meinen Ansichten diametral zuwiderläuft, sollte mir als Demokrat lieber sein als ein Gauner, der genau meine eigene Ansicht vertritt.

Es verbleibt die Frage, warum die Beurteilung des Falls G. durch andere Politikerinnen und Politiker sowie durch Teile der Öffentlichkeit um so vieles nachsichtiger ist. Das kann eigentlich nur mit dem grundlegenden Unverständnis breiter Teile der Bevölkerung für Wissenschaft an sich zusammenhängen. Wissenschaft gilt als Geschäft versponnener Exotinnen und Exoten, und für die dazugehörigen Prinzipien und Regeln braucht man kein Verständnis aufzubringen. Also sieht man G. gerne nach, wenn er sich darum auch nicht schert. So wie man auch mit dem Spruch »Mathe habe ich in der Schule nie verstanden« spontane Sympathien bei Leuten erheischt, die für das Fach auch nichts übrig hatten (eine verbreitete Unsitte!). Dass man die technischen Früchte der Wissenschaft, vom Handy bis zum Jumbo-Jet, trotzdem gerne gebraucht, steht auf einem anderen Blatt. (Albert Einstein hat das auf den Punkt gebracht, man suche auf der Wikiquote-Seite nach »Botanik«.)

Traurig ist, dass zu den Vertreterinnen und Vertretern dieser wurstigen Haltung auch promovierte Politikerinnen und Politiker zählen. Diese müssten es besser wissen und stellen sich damit selbst ein Armutszeugnis aus.

Diese Nachsicht ist nämlich ungerechtfertigt. Für Tätigkeiten ohne wissenschaftlichen Bezug ist die mit dem Doktorgrad verbundene Qualifikation reichlich unwichtig, so auch für die Aufgaben eines Bundesministers. G. hat freiwillig und ohne objektive Notwendigkeit (etwaige persönliche Eitelkeit ist keine solche) einen Doktorgrad angestrebt und hatte sich somit den Regeln der Wissenschaft zu unterwerfen. Diese gebrochen zu haben beschädigt seine Glaubwürdigkeit schwerwiegender als ein Ladendiebstahl. Soweit es noch dazu um ein Amt geht, von dessen Entscheidungen Leib und Leben von Menschen (in Afghanistan und anderswo) abhängen können, ist der Schatten, den solche Unehrlichkeit auf die Vertrauenswürdigkeit des Amtsträgers wirft, auch durchaus in die Nähe der Alkoholfahrt zu rücken.

Wenn also G. Ehrgefühl besäße, müsste er eher heute als morgen zurücktreten. Wenn andere (gerade konservative) promovierte Politikerinnen und Politiker nicht ihrer eigenen einst erworbenen wissenschaftlichen Qualifikation Hohn sprechen wollten, müssten sie G. zum Rücktritt auffordern. Wenn es in Deutschland noch auf Ehrlichkeit ankäme, müsste sich ein Proteststurm gegen den Verbleib G.s im Amt erheben.

Nachsatz: Als Hochschullehrer bleibe ich dabei, Studierenden, die ich in Seminar- oder Abschlussarbeiten bei Plagiaten ertappe, die Note »Nicht bestanden« zu geben. Sollte G. im Amt bleiben, erwäge ich jedoch, zukünftig dies mit einem Empfehlungsschreiben an die Bundeskanzlerin für einen Ministerposten zu verbinden.


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Martin Welk 2011-02-26, © 2011–2017Copyrightbedingungen beachten